Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind – Annette Seydlitz weiß, was das bedeutet, wusste es aber lange Zeit nicht. Die Diagnose 1999, dass ihr Sohn sehr schwer erkrankt sei und immer beeinträchtigt sein würde, wirft sie zunächst mal aus der Bahn. Die Hannoveranerin macht sich auf die Suche nach Hilfsangeboten und Beistand außerhalb bürokratischer Abläufe und therapeutischer Unterstützung für das Kind. Und findet: nichts. Für die engagierte Familientherapeutin Anlass genug, ein eigenes Konzept zu erstellen – für die Begleitung und Beratung von Eltern, deren Kinder schwerstbehindert oder lebensverkürzend erkrankt sind. 2011 legte sie den Grundstein für das mobile Kinder- und Jugendhospiz  in Hannover, kurz MOKI. Heute ist ihr Verein so stark gewachsen, dass ein fünfköpfiges Team psychosoziale Beratung und Begleitung für die Familien bieten kann.

Mit unermüdlichem Einsatz sorgt die Gründerin von MOKI dafür, dass sich der Verein für Eltern, Kinder und andere Familienangehörige stark machen kann. Auf eine stabile öffentliche Finanzspritze kann sie dabei nicht setzen. Sie muss mühsam Spendengelder einsammeln – immer wieder von neuem. „Die Anliegen von Eltern mit besonderen Herausforderungen fallen durchs Raster“, betont Annette Seydlitz, die in den sechs Jahren des Bestehens von MOKI zahlreiche Schicksale verfolgt und die Menschen, hinter den Geschichten, unterstützt hat.

„Die Behinderung eines Kindes wirkt sich auf die ganze Familie aus“, weiß sie. Ein behindertes Kind zu haben bestimme über weite Strecken das Leben von Eltern und Geschwistern. Für sie gäbe es keine Lobby. Auch für die Kinder nicht, die mit schwersten, oft nicht klar diagnostizierten Behinderungen oder nicht heilbaren Krankheiten leben müssten. „Zu 80 Prozent besuchen wir die Familien in ihren eigenen vier Wänden oder begleiten sie bei Behördengängen.“ Denn nicht nur die emotionale Unterstützung sei wichtig im Aufgabenfeld des MOKI-Teams, sondern auch die bürokratischen Antworten auf vielfältigste Fragen, meint die Fachfrau. „So bunt wie das Leben ist – so sind auch die Fragestellungen.“

Wie schaffe ich den Alltag? Wie komme ich dahin zu verkraften, dass mein Kind behindert oder schwer erkrankt ist? Welche Rechte und Ansprüche habe ich bei der Unterstützung? – das sei nur eine kleine Auswahl an Fragestellungen, mit denen sich die gut geschulten Therapeutinnen und Pädagoginnen beschäftigen. Viele Eltern, die zuhause ein behindertes Kind pflegen, würden ihre rechtlichen Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Seydlitz: „Wir sind an der Seite der Familien.“ Wo andere Bekannte vielleicht abspringen, weil sie sich mit der Situation überfordert fühlen, sind die MOKI-Powerfrauen zur Stelle. Sie nennen das selbst professionelle Beziehungssicherheit. Und so nüchtern, wie sich dieser Begriff anhört, so meinen sie es nicht. „Die Gefühle stehen bei uns im Mittelpunkt“, betont Seydlitz. So würden sie und ihre Kolleginnen emotional die Mütter von behinderten Kindern unterstützen, die bewusst keine pränatale Diagnostik in Anspruch genommen oder sich nach Vorliegen eines positiven Befunds für das Austragen des Kindes entschieden haben. Diese Mamas würden zunehmend in eine Rechtfertigungsposition gedrängt, weil ‚so etwas‘ doch heute nicht mehr sein müsse. Verantwortlich dafür sei die Zunahme der pränatalen Diagnostik, die den Eindruck erwecke, dass Behinderungen nicht in und zur Gesellschaft gehörten. Einseitige Darstellungen der Defizite würden zum Wahrnehmungsfilter und Problemwirklichkeiten schaffen, die sich nicht unmittelbar aus der Interaktion mit dem Kind herleiten ließen.

„Wir wollen die Familien stärken“, fasst Seydlitz überzeugend den Hintergrund ihrer Initiative zusammen. So auch bei den Elterngruppen im pittoresken Domizil von MOKI in der Ehrhartstraße 4A in Ahlem. Neben Einzelberatung, Elternberatung, Krisenintervention und Trauerbegleitung gibt es bei der Initiative regelmäßige Treffen, in denen sich Eltern austauschen und gegenseitig unterstützen können. Auch ein eigenes Projekt für Geschwisterkinder hat MOKI bereits gestartet.  „Wer bei uns landet, der ist auch willkommen“. Termine gibt es nach Vereinbarung (Telefon: 0511/772221, E-Mail: info@moki.de). Innerhalb von 48 Stunden, versprechen die Mitarbeiter, würden sie sich bei den betroffenen Familien melden.

Mit einem Informationsstand ist Annette Seydlitz am Freitag, 27. Oktober, im Pavillon vor Ort, wenn Mareice Kaiser aus ihrem Buch „Alles inklusive“ liest. Die Autorin des Kaiserinnenreichs im Internet und Journalistin war Mutter einer Tochter mit Behinderung. Vier Jahre lang durfte sie ihr wunderbares kleines Mädchen mit einer seltenen Beeinträchtigung begleiten. In ihrem Buch „Alles inklusive“ erzählt sie von der Unplanbarkeit des Lebens, vom Alltag zwischen Krankenhaus und Kita, von ungewollten Rechtfertigungen, dummen Sprüchen, stereotypen Rollenverteilungen, bürokratischem Irrsinn und schwierigen Gewissensfragen. Ihre Tochter starb im Alter von vier Jahren. Das Netz trauerte. Nicht nur als Bloggerin setzt sich Mareice Kaiser dafür ein, dass behinderte Kinder mehr sein dürfen als Diagnosen – und Eltern mehr als Pflegekräfte. Im Rahmen der Miteinanders-Tage 2017 ist sie Gast der Vereine „Mittendrin“ und „Down-Syndrom Hannover“. Die Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr, Einlass ist ab 19 Uhr.  Eintritt: fünf Euro zuzüglich Vorverkaufsgebühren, Abendkasse: acht Euro.